Dienste und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung bleiben auf ihren Ausgaben sitzen
25 Nov

24.11.2020 „Mitten in der zweiten Infektionswelle gibt es seitens der Landesregierung nach wie vor keine Signale, sich an den Corona-bedingten Mehrkosten in der Behindertenhilfe zu beteiligen“ erklärt Ursel Wolfgramm, Vorstandsvorsitzende der Liga-BW die derzeitige Lage. „Die vulnerable Gruppe der Menschen mit Behinderung wird damit symbolisch im Stich gelassen“ resümiert Wolfgramm.

Als die Corona-Pandemie ausbrach, mussten sich nicht nur die Pflegeheime entsprechend ausstatten, sondern auch die Einrichtungen der Behindertenhilfe. Dort brauchte es ebenfalls jede Menge Masken, Schutzausrüstung und Plexiglas. Die Wohnheime und Werkstätten hat das viel Geld gekostet. Aber während Pflegeheime diese Mehrkosten über das Krankenhausentlastungsgesetz erstattet bekommen, bleiben die Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen in Baden-Württemberg auf ihren Ausgaben sitzen. Dabei gehören Menschen mit einer Behinderung zur Risikogruppe.

Wohnheime und Werkstätten für Menschen mit Behinderung sowie viele ambulante und offene Angebote der Eingliederungshilfe arbeiten seit Beginn der Coronakrise unter Ausnahmebedingungen. Wegen der Einschränkungen der vergangenen Monate konnten Menschen mit Behinderung nicht wie gewohnt zur Arbeit in die Werkstatt gehen, sondern wurden in ihren Wohneinrichtungen weiter betreut. Teilhabemöglichkeiten insbesondere im Lebensbereich Freizeit waren und sind erheblich eingeschränkt, viele Angebote konnten hier nicht angeboten und durchgeführt werden. In vielen Wohnheimen waren und sind ganze Gruppen unter Quarantäne. Betretungsverbote und Ausgangssperren haben über viele Wochen die sozialen Kontakte zu Freunden, Angehörigen und Familien massiv erschwert. In dieser Zeit waren und sind die Mitarbeitenden der Einrichtungen diejenigen, die an der Seite der Menschen mit Behinderung durch diese schwere Zeit gehen.

Dafür müssen die Dienste und Einrichtungen mit einem hohen finanziellen Aufwand viele Kraftanstrengungen unternehmen. „Wir mussten beispielsweise Beschäftige unserer Werkstätten in kleinen Gruppen betreuen und die Beschäftigten aus unseren Wohneinrichtungen, die zeitweilig die Werkstätten nicht besuchen konnten, vor Ort in den Wohnhäusern betreuen. Hierfür mussten wir massiven personellen Mehraufwand leisten“, schildert Michael Müller, Vorstand der Caritas im Tauberkreis die Situation. Zudem wurden Gebäude und Räume durch aufwändige Um- und Einbauten so umgestaltet, dass ein risikoarmer Betrieb weiterhin möglich ist sowie in großem Umfang persönliche Schutzausrüstung angeschafft. Für den Caritasverband, der unter anderem drei Wohnhäuser in besonderer Wohnform und drei Werkstattstandorte betreibt, führt das zu erheblichen Mehrkosten, die nicht abgedeckt sind. „Rund 210.000 Euro sind bislang aufgelaufen. Bis zum Jahresende wird diese Summe noch deutlich ansteigen“, betont Müller.

Ähnliche Erfahrungen macht auch Thomas Edelbluth, Vorstand des Sonnenhof e.V. in Schwäbisch Hall,: „Neben den erheblichen Mehrkosten durch erhöhte Hygiene- und Schutzmaßnahmen schlagen vor allem die Mehrkosten im Personalbereich in Quarantänesituationen zu Buche. Über 100 Bewohner unserer Wohnangebote bekamen durch uns während der Schließung der externen Werkstätten für Menschen mit Behinderung eine zusätzliche tagesstrukturierende Betreuung in deren Wohnung. Da wir keine eigene Werkstatt betreiben, musste unser Personal dazu eine enorme Kraftanstrengung und unzählige Überstunden leisten. Insgesamt rechnen wir mit einer zusätzlichen Corona-Belastung von bis zu 750.000 Euro, wobei eine endgültige Abschätzung aufgrund der zweiten Welle derzeit noch gar nicht möglich ist. Eine Refinanzierung dieses Aufwands durch die zuständigen Stadt- und Landkreise fand bisher jedenfalls nicht statt“, beklagt Edelbluth.

Auch die Karl-Schubert-Gemeinschaft aus Filderstadt rechnet mit Mehrkosten von ca. 25.000 Euro monatlich. „Für das gesamte Jahr sind das 250.000 Euro Mehrkosten. Dazu kommen erhebliche Mindereinnahmen“, betont der Geschäftsführer Tobias Braun. „Um unsere Liquidität zu sichern wurden alle (Bau-)Projekte vorerst gestoppt. Damit provozieren wir perspektivisch einen Instandhaltungsstau und fehlende Angebote für Menschen mit Assistenzbedarf. Es ist nicht nachvollziehbar, dass sich die Stadt- und Landkreise als Leistungsträger nicht mit dem Land einigen können. Darunter leiden die Leistungserbringer und letztlich die Leistungsberechtigten.“

Neben der wirtschaftlichen Unsicherheit der Träger darf folglich auch die Situation vor Ort nicht übersehen werden. „Die Corona-Pandemie hat unsere Karl-Schubert-Gemeinschaft ordentlich durcheinandergerüttelt. Wir müssen die Balance halten zwischen der Ansteckungsgefahr bzw. der Sicherheit für die Menschen mit und ohne Assistenzbedarf auf der einen Seite und der Begleitung und Erhaltung der Beziehungen als sozialtherapeutisches Instrument auf der anderen Seite. Eine Quadratur des Kreises!“ sagt Tobias Braun.

Trotz der ernsten Situation werden die Corona-bedingten hohen finanziellen Belastungen bis heute durch keine staatlichen Schutzschirme ausgeglichen, wie etwa in der Altenhilfe. Immerhin rechnen alle Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe im Land mit Mehrkosten und Mindereinnahmen, die durch die Nichtbelegung von freien Plätzen und die Schließung der Werkstätten sowie den Ausfall vieler Angebote im ambulanten Bereich entstanden sind, allein für dieses Jahr von rund 84 Millionen Euro. Andere Bundesländer haben hier Lösungen gefunden.

Die Hoffnung, dass die Landesregierung im Rahmen des Nachtragshaushalts der Behindertenhilfe finanziell unter die Arme greift, hat sich bislang nicht erfüllt. Obwohl es die Möglichkeit gäbe, die entstandenen Mehrkosten aus der Corona-Rücklage des Landes abzudecken. Ein entsprechendes gemeinsames Schreiben der Leistungserbringerverbände, der Kommunalen Landesverbände und des KVJS an Finanzministerin Edith Sitzmann und Sozialminister Manne Lucha sowie an die Fraktionsvorsitzenden im Landtag vom September dieses Jahres blieb bisher ohne Antwort. Für die Einrichtungen, die alles tun, damit Menschen mit Behinderungen auch unter Corona-Bedingungen bestmöglich betreut und versorgt werden, ist es unverständlich und enttäuschend, dass das Land bisher nicht reagiert und einen konstruktiven Lösungsvorschlag vorgelegt hat.

Die Liga-BW lädt interessierte Medien- und Pressevertreter zu einem digitalen Pressegespräch ein und erläutert die Situation, die Problemlagen und die aus ihrer Sicht notwendigen politischen Maßnahmen.


Termin: 26.11.2020 um 9.00-10.00 Uhr als Videokonferenz über Zoom.


Die Einwahldaten erhalten Sie nach Anmeldung bis zum 26.11.20 um 8.00 Uhr unter info@liga-bw.de


Als Gesprächspartner*innen stehen Ihnen zur Verfügung:

• Ursel Wolfgramm, Vorstandsvorsitzende Liga-BW
• Dr. Annete Holuscha-Uhlenbroch, Vorstand Liga-BW
• Michael Müller, Vorstand Caritas Tauberkreis
• Thomas Edelbluth, Vorstand des Sonnenhof e.V. in Schwäbisch Hall
• Tobias Braun, Geschäftsführer Karl-Schubert-Gemeinschaft e.V.

Foto: @aumatellgemma via Twenty20