Die Liga bedankt sich für die Möglichkeit, eine Stellungnahme zur geplanten Änderung des Schulgesetzes abzugeben. Die Liga der freien Wohlfahrtspflege Baden-Württemberg lehnt die Änderung des Schulgesetzes in der geplanten Form vollumfänglich ab. Die Gründe hierfür sind:
I. Die Einrichtungen der Ganztagsbetreuung, wie sie im Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) benannt werden, sind ausnahmslos Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.
II. Die Aufsicht über diese Einrichtungen liegt in Baden-Württemberg beim Landesjugendamt. Eine Aufsicht durch die staatliche Schulaufsicht ist nicht sachgerecht.
Wir werden diese Gründe im Folgenden näher ausführen.
I. Alle Formen der Ganztagsbetreuung sind Teil der Kinder- und Jugendhilfe
(1) Die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern liegt in der Gesamtverantwortung der öffentlichen Jugendhilfe. Dies ergibt sich unmittelbar aus der Verankerung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung in § 24 Abs. 4 SGB VIII. Die Gesamtverantwortung für die Erfüllung der Aufgaben nach dem SGB VIII liegt nach § 79 Abs. 1 SGB VIII bei den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe. Entsprechend heißt es in der Begründung zum GaFöG: “§ 79 SGB VIII sieht vor, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Rahmen ihrer Gesamtverantwortung die erforderlichen und geeigneten Einrichtungen und Dienste rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung zu stellen haben.” (BT-Drucksache 19/29764, S. 14).
Auch an einer weiteren Stelle wird angeführt, dass der Rechtsanspruch “gegenüber dem zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe” (BT-Drucksache 19/29764, S. 28) besteht. Mit der Verortung des Rechtsanspruchs in § 24 Abs. 4 SGB VIII wird zudem deutlich, dass sich dieser Anspruch nicht nur auf die Beaufsichtigung, sondern auf die Förderung des Kindes bezieht. Diese Förderung umfasst nach § 22 Abs. 3 SGB VIII die “Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes und bezieht sich auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes.”
(2) Alle Einrichtungen der Ganztagsbetreuung in Baden-Württemberg (Hort, Hort an der Schule, Verlässliche Grundschule, Flexible Nachmittagsbetreuung) erfüllen die Kriterien des Einrichtungsbegriffs nach § 45a SGB VIII, nämlich den “Zweck der ganztägigen oder über einen Teil des Tages erfolgenden Betreuung oder Unterkunftsgewährung sowie Beaufsichtigung, Erziehung, Bildung, Ausbildung von Kindern und Jugendlichen außerhalb ihrer Familie” und sind demnach Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.
(3) Im Gesetzentwurf heißt es, dass alle Betreuungsformen außer den betriebserlaubten Horten „außerhalb der Jugendhilfe liegende Aufgaben“ seien. Diese Unterscheidung von Hort und Hort an der Schule einerseits und Verlässlicher Grundschule (VGS) und Flexibler Nachmittagsbetreuung (FNB) andererseits, wie sie im Gesetzentwurf des Kultusministeriums vorgenommen wird, ist allerdings weder sachgerecht noch zeitgemäß:
Ursprünglich waren die “ergänzenden Betreuungsangebote im Grundschulbereich” nach Auffassung des Sozialministeriums den Jugendfreizeiteinrichtungen zugeordnet und nicht unter eine Heimaufsicht gestellt (Schreiben des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit, Familie und Sozialordnung Baden-Württemberg vom 17. Juli 1990, AZ 42-7224). Dies wurde vor nun mehr als 30 Jahren wohl mit dem geringen zeitlichen Betreuungsumfang begründet, der damals nur wenige Stunden pro Woche umfasste.
Von einem geringen Betreuungsumfang kann heute keine Rede mehr sein. Die VGS und die FNB können jeweils bis zu einem Betreuungsumfang von 15 Stunden pro Woche gefördert werden. In der Praxis findet bereits jetzt vielerorts eine Kombination beider Angebote statt, so dass sich Öffnungszeiten der Einrichtungen von 7:00/7:30 bis 8:30 Uhr sowie ca. 12:15 bis 17:00 Uhr ergeben. Dieser Betreuungsumfang entspricht dem von Horten und Horten an der Schule.
Die fachliche Analogie zwischen betriebserlaubten Horten und der VGS/FNB wird auch bei den pädagogischen Inhalten deutlich. Sowohl Horte/Horte an der Schule als auch VGS/FNB umfassen im Tagesverlauf die gleichen Angebote: Betreuung/freies Spiel unmittelbar vor oder nach der Unterrichtszeit, pädagogisch begleitetes Mittagessen, Hausaufgabenbegleitung, Kinderrunden, Partizipationselemente sowie themenbezogene Angebote (Sport, Basteln, Musik, Natur, …). Auch hieraus lässt sich keine unterschiedliche Behandlung begründen.
Die Tatsache, dass VGS und FNB in Baden-Württemberg bislang nicht als Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe erachtet und dementsprechend nicht der Aufsicht des Landesjugendamtes unterstellt wurden, ist darauf zurückzuführen, dass sich bislang weder Kultus- oder Sozialministerium noch der KVJS dieser Thematik gestellt haben.
Angesichts des umzusetzenden Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung läge es aus unserer Sicht nahe, diese Betreuungsangebote in kommunaler oder freier Trägerschaft (VGS/FNB) neben den Horten und Horten an der Schule als eigene Betriebsform nach § 24 Abs. 4 SGB VIII zu etablieren und landesrechtlich zu verankern. Entsprechende qualitative Anforderungen an solche Einrichtungen haben wir bereits in unserer „Rahmenempfehlung für die pädagogische Schulkindbetreuung“ formuliert.
(4) Die Behauptung, VGS/FNB seien als “schulnahe Angebote … an den organisatorischen Ablauf der Schule angebunden” (Gesetzentwurf, S. 8) ist kein Argument, diese Angebote der staatlichen Schulaufsicht zu unterstellen. Beispielsweise ist die Schulsozialarbeit als Angebot der Kinder- und Ju-gendhilfe in ähnlicher Weise schulnah organisiert und unterliegt dennoch nicht der staatlichen Schulaufsicht.
(5) Ebenso ist die Einschätzung unzutreffend, bei den Betreuungsangeboten in kommunaler oder freier Trägerschaft (VGS/FNB) handele es sich um “Einrichtungen (…), die außerhalb der Jugendhilfe” liegen. Für die Ausnahme von der Erlaubnispflicht nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII “… ist entscheidend, dass die primäre Aufgabe dieser Einrichtungen nicht in der regelmäßigen Betreuung (…) Minderjähriger liegt und außerhalb der Jugendhilfe liegende Aufgaben wahrgenommen werden” (Münder et al.: Frankfurter Kommentar SGB VIII, 2022, § 45 Rn. 12). Dies trifft auf die Ganztagsbetreuungsangebote erkennbar nicht zu.
(6) Die Betreuungsangebote (VGS/FNB) sind auch keine offenen Ganztagsschulen, da dort “die Schulleitung auf der Basis eines gemeinsamen pädagogischen Konzeptes mit einem außerschulischen Träger kooperiert und eine Mitverantwortung der Schulleitung für das Angebot besteht” (KMK: Definitionenkatalog zur Schulstatistik 2022, S. 21). Letzteres ist bei den Betreuungsangeboten nicht der Fall, weswegen sich auch hieraus keine Zuständigkeit der staatlichen Schulaufsicht begründen lässt. Auch die Tatsache, dass Angebote von Ganztagsgrundschulen den neuen Anspruch aus § 24 Abs. 4 SGB VIII erfüllen können, bedeutet nicht, dass Betreuungsangebote kommunaler und freier Träger unter die staatliche Schulaufsicht zu stellen wären.
II. Die Aufsicht über die Einrichtungen der Ganztagsbetreuung muss beim Landesjugendamt liegen
(1) Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe benötigen nach § 45 Abs. 1 SGB VIII eine Erlaubnis für ihren Betrieb. Dies gilt folglich auch für alle Einrichtungen der Ganztagsbetreuung. Für Horte und Horte an der Schule hat das Landesjugendamt bereits Rahmenbedingungen festgelegt. Für die Einrichtungen nach § 24 Abs. 4 SGB VIII müssen in Analogie zu dem „Grundlagenpapier für Tageseinrichtungen für Kinder“ des KVJS bis zum Inkrafttreten des Rechtsanspruchs entsprechend neue Kriterien für die dann zu erteilende Betriebserlaubnis erarbeitet und in Kraft gesetzt werden. Dazu wird neben den Kriterien zur räumlichen und sachlichen Ausstattung vor allem auch ein der Zielgruppe angepasster Fachkräftekatalog gehören müssen, der z.B. auch nicht-pädagogische Professionen einschließt.
Nach § 85 Abs. 2 Nr. 6 SGB VIII werden die mit § 45 verbundenen Aufgaben (Aufsicht und Beratung) vom überörtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe wahrgenommen. In Baden-Württemberg ist dies nach § 19 Kinder- und Jugendhilfegesetz für Baden-Württemberg (LKJHG) das Landesjugendamt.
(2) Voraussetzung für die Erteilung einer Betriebserlaubnis ist, dass “das Wohl der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung gewährleistet ist” (§ 45 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Für den überörtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe (Landesjugendamt) ergibt sich daraus eine Prüfpflicht, die unter anderem folgende Punkte umfasst (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII und Münder et al.: Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 45 Rn. 18 ff.):
• die Zuverlässigkeit des Trägers, insbesondere mit Blick auf § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII
• die räumlichen Voraussetzungen der Einrichtung, insbesondere psychosoziale und pädagogische Aspekte von Lage, Bau und Ausstattung der Räumlichkeiten
• die fachlichen Voraussetzungen, insbesondere mit Blick auf die pädagogische Konzeption
• die wirtschaftlichen Voraussetzungen, insbesondere die finanzielle Solidität und Liquidität des Trägers der Einrichtung
• die personellen Voraussetzungen, mit Blick auf die Qualifikation und die Menge des Personals sowie hinsichtlich der Vorgaben des § 72a SGB VIII
• die Unterstützung der gesellschaftlichen und sprachlichen Integration und eines gesundheitsförderlichen Lebensumfelds in der Einrichtung
• die Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung durch
o Entwicklung, Anwendung und Überprüfung eines Gewaltschutzkonzeptes,
o geeignete Verfahren der Selbstvertretung,
o geeignete Verfahren der Beteiligung und
o die Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten innerhalb und außerhalb der Einrichtung
Nach Erteilung einer Betriebserlaubnis führt der überörtliche Träger bei Bedarf auch die Verfahren nach § 45 Abs. 6 (Beratung bei festgestellten Mängeln in einer Einrichtung) und § 45 Abs. 7 SGB VIII (Aufhebung der Betriebserlaubnis) durch.
(3) Neben den genannten Pflichten im Kontext des § 45 SGB VIII erfüllt der überörtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe (Landesjugendamt) noch weitere Aufgaben gegenüber den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. So hat er beispielsweise den Auftrag, Träger von Einrichtungen während der Planung und Betriebsführung zu beraten (§ 85 Abs. 2 Nr. 7 SGB VIII). Ebenso haben die Einrichtungsträger “gegenüber dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung bei der Entwicklung und Anwendung fachlicher Handlungsleitlinien (1.) zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt sowie (2.) zu Verfahren der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung sowie zu Beschwerdeverfahren in persönlichen Angelegenheiten” (§ 8b Abs. 2 SGB VIII).
(4) Diese Aufgaben (Aufsicht und Beratung) werden in Baden-Württemberg seit Jahrzehnten erfolgreich vom Landesjugendamt wahrgenommen. Neben den dargestellten rechtlichen Vorgaben für die Ganztagsbetreuung liegt es auch aus ganz pragmatischen Gründen nahe, die Aufsicht über die Betreu-ungsangebote in kommunaler oder freier Trägerschaft beim Landesjugendamt zu verorten.
Die staatliche Schulaufsicht ist im Gegensatz dazu nach §§ 32 bis 37 Schulgesetz in Baden-Württemberg mit gänzlich anderen Aufgaben betraut. Insofern kann sie nicht über die Expertise und die Kompetenzen verfügen, die zur Durchführung der Aufsicht über die Einrichtungen der Ganztagsbetreuung im oben genannten Sinne notwendig sind.
(5) Eine gesetzliche Aufsicht hat – auch ohne eine Betriebserlaubnispflicht – den gleichen Schutzzweck zu verfolgen, wie er sich aus § 45 SGB VIII ergibt (vgl. Wiesner et al.: SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 6. Aufl. 2022, § 45 Rn. 39). Dementsprechend wäre die im Gesetzentwurf vorgesehene staatliche Schulaufsicht als Aufsichtsbehörde auch in diesem Fall mit den genannten rechtlichen Vorgaben konfrontiert, für die sie – wie eben ausgeführt – aufgrund ihres bisherigen Aufgabenprofils nicht qualifiziert sein kann.
Abschließende Bewertung
Wie ausführlich gezeigt, sind die Betreuungsangebote in kommunaler oder freier Trägerschaft wie alle Einrichtungen der Ganztagsbetreuung ein im SGB VIII gesetzlich verankerter Teil der Kinder- und Jugendhilfe. Die zuständige Aufsichtsbehörde ist demnach in Baden-Württemberg das Landesjugendamt.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Schulgesetzes sieht hingegen vor, die Aufsicht über diese Einrichtungen bei der staatlichen Schulaufsicht anzusiedeln. Aus unserer Sicht gibt es dafür weder rechtliche oder fachliche Gründe, noch besteht überhaupt die Notwendigkeit zur Schaffung neuer Strukturen. Mit dem Landesjugendamt existiert bereits eine Aufsichtsbehörde, die über die entsprechende Expertise verfügt.
Die Liga der freien Wohlfahrtspflege Baden-Württemberg lehnt den vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Schulgesetzes entschieden ab und schlägt vor, die Aufsicht über die Betreuungsangebote in kommunaler oder freier Trägerschaft beim Landesjugendamt anzusiedeln.