Junge Menschen und ihre Familien jetzt wirksam unterstützen!
Stuttgart, den 03.08.2021
Kinder, Jugendliche und Familien – gerade in sozialen Benachteiligungslagen – sind besonders stark von den Pandemiemaßnahmen betroffen (gewesen). Darauf hat die Liga der freien Wohlfahrtspflege Baden-Württemberg e.V. fortlaufend aufmerksam gemacht: Insbesondere die Lockdowns haben fatale Auswirkungen auf die Entwicklung, Teilhabe und Gesundheit junger Menschen gehabt. Kinderrechte, wie das Recht auf Bildung, wurden besonders stark eingeschränkt und Familien vor mannigfaltige Herausforderungen gestellt. Dies hat kurz-, mittel- und langfristig weitreichende gesellschaftliche Folgen. Auch gefährdet unseren sozialen Zusammenhalt, dass die Belange junger Menschen und ihrer Familien zwar verstärkt in der Öffentlichkeit thematisiert werden, sie in politischen Entscheidungen jedoch weiterhin zu wenig Berücksichtigung finden. Soziale Ungleichheit wird verstärkt und, gerade junge, Menschen fühlen sich ohne Gehör, Perspektive und Anschluss.
Wir begrüßen, dass die Landesregierung in ihrem Koalitionsvertrag „Jetzt für Morgen. Der Erneuerungsvertrag für Baden-Württemberg“ ihr Vorhaben unterstreicht, auch kurzfristig den Folgeschäden der Pan-demiemaßnahmen entgegenzuwirken. Wir stehen gerne als zuverlässiger Partner zur Verfügung, die Entwicklung und Umsetzung des ressortübergreifenden Masterplans „Maßnahmen gegen Corona-Folgeschä-den bei Kindern, Jugendlichen und Familien“ zu unterstützen. Dafür bündeln wir praktische Erfahrungen von Fachkräften aus der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe vor Ort und möchten so proaktive, konkrete Impulse für die kurzfristige, landesweite Entscheidungsfindung einbringen, um junge Menschen und ihre Familien jetzt wirksam zu unterstützen.
Emotional-soziale Entwicklung und Gesundheit junger Menschen fördern
Kinder und Jugendliche sind zunächst einmal genau das: Kinder und Jugendliche mit ganz spezifischen, notwendigen Entwicklungsaufgaben – nicht nur Schüler*innen. Junge Menschen haben einen maßgeblichen Beitrag geleistet, dass die Gesellschaft gut durch die Krise kommt. Neben einer verstärkten Wertschätzung dieser Solidarität brauchen Kinder und Jugendliche Angebote, die an ihren sozialen und emotionalen Bedürfnissen ansetzen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass viele junge Menschen das Gefühl haben, ein Jahr ihres Aufwachsens verpasst zu haben und ihnen ein Jahr von Bindung und Bezug fehlt, das sich nicht direkt kompensieren lässt. Auch gesundheitliche Probleme treten verstärkt auf: Suizidgedanken, Zukunftsängste, Zwänge, Vermeiden körperlicher Nähe, etc. Daher brauchen junge Menschen jetzt Möglichkeiten und professionelle Begleitung, wieder Anschluss zu finden, Nähe zuzulassen und sich auszuprobieren:
- Die verschiedensten Felder der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe stehen mit ihren Fachkräften jungen Menschen und Familien zur Verfügung: Familienbildung, -beratung und -erholung, Jugendarbeit/Ju-gendsozialarbeit, Erziehungshilfe, Kindertagesbetreuung. Es braucht eine finanzielle und personelle Stärkung der bestehenden Angebote und auch die (Weiter-)Entwicklung spezifischer Ansätze, wie resi-lienzfördernde Angebote.
- Es braucht nicht nur eine Stärkung therapeutischer Angebote für psychisch belastete junge Menschen, sondern auch Unterstützung z.B. durch peer-group-Austausche, die an Beratungsstellen angeschlossen sind.
- Vor Ort können Freiräume für junge Menschen im Sozialraum zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt setzen wir auf die verstärkte Zusammenarbeit unterschiedlichster Akteure vor Ort: Schule, au-ßerschulische Partner, aber auch Ehrenamtliche, die schon seit vielen Monaten gute Unterstützungsarbeit leisten.
- Schulen sollten ihre Räumlichkeiten flexibel für außerschulische Akteurinnen öffnen, auch am Wochenende und in den Ferienzeiten. So können Nachhilfe, kulturelle oder sportliche Kurse oder auch Freizeitangebote auch von außerschulischen Akteurinnen unterstützt werden.
Möglichkeiten zur Erholung und Stärkung junger Menschen und Familien garantieren
Mit der Zunahme familiärer Belastungen durch die Pandemiemaßnahmen brauchen gerade sozial benachteiligte Familien dringender denn je Räume und Zeiten der Erholung und der Stärkung: - Es braucht Freizeiten in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Familienerholung oder in den Hilfen zur Erziehung im Sommer 2021.
Wir unterstützen die Kampagne des Landesjugendrings #jugendgehtbaden und begrüßen die Planungen des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg. - Wir begrüßen es sehr, wenn das Land, bis der Bund im Herbst ein Familienerholungsprogramm zur Verfügung stellt, die Familienerholung in Baden-Württemberg im Sommer unterstützt. Damit würde die Landesregierung der Familienerholung ihre Bedeutung beimessen, die sie auch im Hinblick auf die Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut spielt. Nach dem Strategiejahr „Starke Kinder – chancen-reich“ wäre darüber hinaus mittelfristig der Wiedereinstieg in die infrastrukturelle und individuelle Förderung von Familienerholung ein wichtiges Signal.
- Angebote der Stadtranderholung sollten in allen Gebieten im Schulterschluss gemeinsam übernommen werden, aus einem Gefüge von Engagement und Professionalität. Hier gab es gerade im ländlichen Bereich bereits sehr gute Erfahrungen, auf die zurückgegriffen werden kann. Waldheime in den Städten bieten hier einen guten Ankerpunkt.
- Für alle Familien sollten Schulferienprogramme, abseits der Lerninhalte, gestaltet werden – Besuche im Zoo, im Klettergarten, etc. Dazu gilt es, Teilhabezugänge für alle Familien sicherzustellen.
Das Recht auf ganzheitliche Bildung realisieren
Die Pandemiemaßnahmen haben, wie das häufig zitierte „Brennglas“, die bereits bestehende Bildungsungerechtigkeit verschärft, neue Benachteiligungen traten auf. Das IBBW geht derzeit davon aus, dass etwa 30% der Kinder und Jugendlichen aufgrund der Pandemiemaßnahmen Lernlücken zeigen. Die Projekte der Landesregierung „Überbrücke die Lücke“ und Lernbrücken in den Sommerferien sind Schritte in die richtige Richtung, auch durch die Anerkennung der sozial-emotionalen Entwicklung, aber für ein um-fassendes Bildungsverständnis braucht es aus unserer Sicht mehr: - Nicht nur Lehrkräfte sollten Kinder für die Programme benennen können, sondern auch die sozial-pädagogischen Fachkräfte an Schulen.
- Zum Schließen von Lernlücken und der Förderung der sozial-emotionalen Entwicklung können sich nicht nur Lehramts-Studierende, sondern auch andere Studierende, Tätige in der Jugend(verbands)ar-beit, in Sportvereinen, etc. engagieren. Es muss auch in der Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen sichergestellt werden, dass der Kinderschutz stets gewahrt ist.
- Praxisphasen in sozialpädagogischen Studiengängen können in diesem Zug gesteigert werden.
- Es braucht spezifische Ansprache in Quartieren und die Mitnahme von Familien mit Flucht- oder Migrationshintergrund. Besonders wirksam ist hierbei, im Sinne des community empowerments, die Einbindung aus dem Betroffenenkreis heraus, wie z.B. im Projekt interkulturelle Brückenbauer*innen.
- Im Zuge der Projekte kann auch eine Brücke zu den Elternmentor*innen geschlagen werden.
- Im Rahmen der VwV Sprachförderung könnten z.B. sozialräumliche Spaziergänge durchgeführt werden.
- Es gab im Lockdown viele tolle Beispiele für digitale Lernbegleitung, wie Schulbooster oder check-e.jetzt. Analoge und digitale Patenschafts-Modelle sollten vom Kultusministerium und Sozialministerium unterstützt werden. Es braucht unkomplizierte Wege zum Schließen von Lernlücken, dies kann nicht alleine von Lehrkräften und Lehramtsstudierenden geleistet werden. Die Patenschafts-Modelle sind gerade ausdifferenziert nach Altersgruppe und in der Nachbarschaft wirksam – hier bietet sich eine Verknüpfung mit der Landesstrategie „Quartier 2030“ an.
- Junge Menschen sollten bei individuellem Unterstützungsbedarf verlässlich die Möglichkeit haben, fachlich begleitet zu werden sowie in Gruppen- und Klassenkonstellationen sicher auf Dynamiken reagieren zu können. Dies kann von den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe sowie an Schule gut aufgefangen werden. So könnten Schulsozialarbeiterinnen, Theater-, Sport- oder Tanzpädagogin-nen, Psycholog*innen, etc. gemeinsam und mit ihrer jeweiligen Expertise unterstützen (multiprofessi-onelle Teams), um den jungen Menschen bedarfsgerechte Angebote zur Verfügung zu stellen.
Familien und Kinder jetzt stärken – Familienförderstrategie umsetzen
Wir begrüßen das Vorhaben im Koalitionsvertrag, eine Familienförderstrategie zu schaffen, sie führt die Impulse aus dem Strategiejahr gegen Kinderarmut „Starke Kinder – chancenreich“ richtig und konsequent weiter: - Die Weiterentwicklung von Kindertagesstätten zu Kinder- und Familienzentren ist ein essenzieller Bau-stein im Engagement gegen Kinderarmut in Baden-Württemberg, sie unterstützen die Entwicklung von Kindern und ihren Familien ganzheitlich. Auch sozialraum-orientierte Familienzentren und Mütterzentren unterstützen Familien in unterschiedlichen Lebenslagen. Eltern brauchen jetzt den Austausch, viele erleb(t)en eine kaum vorstellbare soziale Isolation.
- Der Ausbau von niederschwelligen familienunterstützenden Leistungen, z.B. Familienpaten, stärkt die Familiensysteme und trägt zu deren Entlastung bei.
- Langfristig sollte eine Landesjugendstrategie etabliert werden, die eine Beteiligung von jungen Menschen an gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen konsequent sicherstellt. Hierfür kann man gut an das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz und die darin verankerten Selbstvertretungen anschließen.
Übergänge in Ausbildung und Beruf gelingend gestalten - Junge Menschen finden derzeit weniger Ausbildungsplätze, v.a. auch in den Berufen, die für Schüler*innen interessant sind. Daraus resultiert Zukunftsangst. Es könnten zusätzliche berufsvorbereitende Kurse als Überbrückung angeboten werden, wenn Ausbildungen und Praktika noch nicht möglich sind.
- Längere Ausbildungszeiten könnten Lücken kompensieren.
- Verstärkte Nachhilfe in ausbildungsrelevanten Fächern, wie Mathematik oder eine zweite Fremdsprache, kann helfen, den Anschluss nicht zu stark zu verlieren.
- Bei Betrieben wird dafür geworben, dass sie wieder Praktika ermöglichen. Es könnten andere Erfahrungsangebote als Ersatz für das klassische Praktikum geschaffen werden: Natur erleben, Arbeit von Sozialorganisationen kennenlernen, etc. Hierzu sollte der Austausch und die Zusammenarbeit mit den Kammern und Betrieben gesucht werden.
Neben den hier dargestellten kurzfristigen Impulsen gilt es, auch mittel- und langfristig den gesellschaftlichen Folgen der Pandemiemaßnahmen entgegenzuwirken. Dies sehen wir u.a. darin, die Beteiligung junger Menschen auch in Krisenzeiten konsequenter umzusetzen und Bildung in Baden-Württemberg umfas-sender und aus der Perspektive junger Menschen gedacht sicherzustellen. Auch hierfür stehen wir als zuverlässiger Partner zu Verfügung.
Foto: nataliaderiabina